In der letzten Stern-Ausgabe erschien ein lesenswerter Beitrag von Walter Wüllenweber über die Realität zu der Frage der geforderten Obergrenze in der Flüchtlingspolitik und warum wir diese nicht schaffen können. (Hier der Onlineartikel)
In diesem ging er der Frage nach, wie und ob die Details zum Ziel der Einführung einer Flüchtlingsobergrenze zu bewältigen wären. Dazu befragte er Fachleute. Sein Fazit: „Obergrenze – schaffen wir nicht“
Hier einige Auszüge aus dem Artikel:
Und so hatte die CSU sich das vorgestellt: Bevor die Flüchtlinge in die Bundesrepublik einreisen, sollten zunächst alle in die „Transitzone“, wo im Schnelldurchgang geprüft werde, wer eine Chance auf Asyl hat und wer nicht. Bis zu einem Monat sollte das Verfahren dort dauern dürfen. …
Nach der Drohung kam das Nachdenken. Moment mal: In einem Monat kommen ja mehr als 100.000 über die Grenze nach Deutschland. Wäre die CSU-Forderung umgesetzt worden, eine neue Siedlung wäre entstanden, vermutlich gleich neben Passau mit doppelt so vielen Einwohnern wie Passau. Straßen hätten gebaut werden müssen, Häuser, ein eigenes Kraftwerk, eine eigene Kläranlage …
Anruf bei der CSU. „Wir führen die Kontrollen an sämtlichen Grenzkontrollstellen wieder ein. Dann haben wir die Grenze gesichert“, sagt Jürgen Fischer, Sprecher der CSU. So leicht geht das also. Wie viele Beamte braucht man dazu? Und vor allem: Wie sichert man die grüne Grenze? „Wenn Sie auf eine ganz konkrete Lösung hinauswollen, dann haben wir die aktuell auch nicht. Die werden wir Ihnen aber in absehbarer Zeit zur Verfügung stellen“, versichert der CSU-Sprecher. …
„Natürlich müssen wir auch die grüne Grenze sichern.“ Und wie? „Wir müssen es so machen wie früher“ …
Früher, damit ist die Zeit vor Inkrafttreten des Schengener Abkommens gemeint. Bis 1997 dienten insgesamt 2500 Grenzschützer in den Zollhäuschen an den offiziellen Übergängen zu Österreich. Auf den über 800 Kilometern dazwischen blieben Wanderer, Skifahrer und Gamsböcke unter sich. Seit Mitte der 90er Jahre sind bei der Polizei in Deutschland 16.000 Stellen abgebaut worden. …
Die Bundespolizei hat inzwischen damit begonnen, zusätzliches Personal auszubilden, insgesamt 3000 Frauen und Männer. Wenn alles glattgeht, wird das reichen, um wenigstens alle Kontrollstellen zu besetzen. Im Jahre 2019, nach der Ausbildung. Aber die grüne Grenze bleibt auch danach offen. …
Außer man baut einen Zaun an der Grenze zu Österreich. Und zur Tschechischen Republik gleich mit. Schließlich ist auch die Grenze zwischen Österreich und Tschechien weit offen – eine logische Ausweichroute. Macht zusammen etwa 1600 Kilometer. „Die Vorstellung von einem Grenzzaun ist absoluter Quatsch“, sagt Michael Thomas, Eigentümer eines der größten deutschen Unternehmen für Sicherheitszäune. …
„Wenn die Leute mit der Kneifzange, die sie sich im Baumarkt in Österreich kaufen, den Zaun durchdringen können, kommen Sie mit dem Reparieren gar nicht nach“, sagt Thomas. Also müsste es ein Zaun aus Stahlstäben sein, einbetoniert im Boden und mindestens vier Meter hoch. So ein Werk würde Milliarden kosten, der Bau müsste EU-weit ausgeschrieben werden. Bevor der Zaun dicht ist, starten längst die ersten Maschinen vom Berliner Flughafen BER. …
Doch der Preis und die Bauzeit sind nur die kleineren Probleme, meint Zaunbauer Thomas: „Ein solches Projekt würde die Kapazität der gesamten Branche überfordern. 1600 Kilometer, das schaffen wir alle zusammen nicht.“ Außerdem, wendet er ein: Wo soll er denn verlaufen, der Zaun? Genau auf der Grenze, auf den Bergkämmen, auch auf der Zugspitze? „Unbezahlbar“, sagt Thomas. Also irgendwo im Landesinneren. „Dann verläuft er über Privatbesitz. Wissen Sie, was das bedeutet?“ 1600 Kilometer Klagen, 1600 Kilometer Bürgerinitiativen. „Wer einen solchen Zaun fordert, hat nicht nachgedacht“, sagt Thomas. …
Doch Zehntausende, eher Hunderttausende, werden über die grüne Grenze einreisen. Eine Obergrenze bei nur angelehnter Tür wird zwangsläufig die Zahl der „Illegalen“ erhöhen. Sie werden gezwungen sein, ihren Lebensunterhalt durch Schwarzarbeit zu bestreiten. Oder durch Kriminalität. …
Am 19. August 2015 trat Innenminister Thomas de Maizière mit einer Information vor die Presse, die Teile der Bevölkerung verunsicherte: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge rechnete mit 800.000 Flüchtlingen für das laufende Jahr. Viele Migrationsforscher und mehrere Bundesländer gingen zu diesem Zeitpunkt bereits von einer Million aus. Erst zwei Wochen später traf Angela Merkel die Entscheidung, die in Ungarn festsitzenden Flüchtlinge ins Land zu lassen. Für 2015 musste also in jedem Fall mit 800.000 oder einer Million Schutzsuchenden gerechnet werden. Auch ohne Merkels Entscheidung. Die Menschen fliehen vor Assads Fassbomben, vor der Mörderbande des IS oder vor den Taliban in Afghanistan. Angela Merkels Politik hat den Flüchtlingsstrom womöglich ein wenig beschleunigt, aber sie hat ihn nicht verursacht und nicht ausgelöst. …
Die Grenzpolizisten in Passau oder Freilassing dürfen sich nicht öffentlich über ihre Arbeit äußern. Doch wer mit den Beamten spricht, die täglich vielen Hundert Neuankömmlingen in die Augen schauen, erfährt stets dasselbe: Ohne Gewalt lassen sich die Menschen nicht aufhalten. Die Einschätzung der Praktiker deckt sich mit den Erkenntnissen der Wissenschaft. „Die Geschichte der Kontrolle von Flüchtlingsströmen zeigt eindeutig: Sie ist nur möglich mit Gewalt. Man muss schon bereit sein zu schießen“, sagt Vassilis Tsianos. …
Nicht auszuschließen, dass dieser Fluchtweg geschlossen werden kann. „Aber selbst ein effizientes Grenzmanagement bewirkt stets nur eine geografische Verschiebung der Fluchtrouten“, sagt Tsianos. … Diese Erfahrung macht auch die Grenzschutzagentur Frontex. Sie soll eigentlich die Außengrenzen der EU sichern. Izabella Cooper, Sprecherin von Frontex, gibt jedoch offen zu: „Wir können die EU-Grenzen nicht lückenlos schließen. Die Schleuser haben im vergangenen Jahr vier Milliarden Euro verdient. Die suchen ununterbrochen nach neuen Routen. Dagegen sind wir machtlos.“ …Anfang der 2000er Jahre verlief die Hauptroute von Afrika auf die Kanarischen Inseln. Frontex schickte Schiffe. Die Route verlagerte sich nach Spanien. Frontex schickte Schiffe. Die nächste Route führte nach Italien. Frontex schickte Schiffe. 2015 kamen die Menschen über die Balkanroute. Nun soll Frontex in der Ägäis patrouillieren. Und 2016?
Ein Blick in den „Diercke-Weltatlas“ kann helfen. Und der Migrationsforscher Tsianos. In der Türkei hat er inzwischen zahlreiche Hinweise auf die neue Hauptroute gesammelt: „Die wird schon bald von der Türkei über das Schwarze Meer verlaufen. Von dort über Bulgarien, Rumänien und die Ukraine nach Polen.“ Auch Frontex registriert mehr Aktivitäten an der bulgarischen Schwarzmeerküste. Womöglich wird Polen schon bald kein Zuschauer des europäischen Flüchtlingschaos mehr sein, sondern mittendrin stecken. Dann wird Deutschland auch an der 440 Kilometer langen Grenze zu Polen keinen Zaun bauen, sondern den Nachbarn solidarisch zur Seite stehen. …Es wäre konsequent, die Abgelehnten abzuschieben. Doch es ist unmöglich. Nicht aus humanitären Gründen, sondern aus logistischen.
Schon heute haben etwa 200.000 Menschen eine „Ausreise-Aufforderung“. Nehmen wir an, die Behörden wollten sie alle abschieben und ließen sich dabei sogar ein ganzes Jahr Zeit. Das wären 1000 an jedem Werktag. Von den Asylbewerbern des vergangenen Jahres werden vermutlich 500.000 abgelehnt. Im besten Fall werden 300.000 das Land freiwillig verlassen. Dann bekommen weitere 200.000 eine „Ausreise-Aufforderung“. Jetzt müssten wir insgesamt schon 2000 pro Tag abschieben. Die Behörden können nicht bei jedem Auslandsflug die letzten fünf Reihen für Menschen in Ketten reservieren. Das würden die normalen Fluggäste und die Airlines nicht mitmachen.
Auch die Bundeswehr kann nicht helfen. Die hat zu wenig Flugzeuge, und die schaffen es nicht mal bis Kabul. Also muss die Bundesrepublik eine eigene Abschiebe-Fluggesellschaft gründen: die „One-Way-Airlines“. „Normale Flugzeuge können Sie dafür aber nicht nehmen“, sagt Anton Bachl, Vorsitzender des Bundes der Strafvollzugsbediensteten. Der Fachmann weiß: Wenn die Abzuschiebenden nicht still im Flugzeug sitzen, kann der Pilot gar nicht starten. „Das kriegen die sofort spitz. Für die Abschiebung braucht man also spezielle Gefangenentransportflugzeuge.“ …Lassen wir das ungelöste Flugzeugproblem beiseite. 2000 Abschiebungen am Tag kann man nicht an den Zivilflughäfen nebenbei durchziehen. Für so viele unfreiwillige Passagiere müssten die Flughäfen zu Hochsicherheitseinrichtungen umgebaut werden. Man braucht also einen eigenen Flughafen. Die gute Nachricht: Ungenutzte Flughäfen gibt es in Deutschland im Überfluss. Geografisch in der Mitte liegt Kassel-Calden. Eine zentrale Abschiebung würde zwar dem geltenden Recht widersprechen, denn zuständig sind die Länder. Doch das könnte die Politik ändern. Endlich mal ein lösbares Problem.
Nun brauchen wir noch einige Tausend Polizeibeamte, um die Abzuschiebenden aus dem ganzen Bundesgebiet nach Kassel zu bringen. Wo aber halten sich die Menschen auf, bevor sie ins Flugzeug steigen? Damit sie nicht gleich wieder weglaufen, müsste das eine Art Gefängnis sein. Heute sitzen Ausreisepflichtige meist mehrere Wochen in Abschiebehaft. Wenn man es schaffen könnte, mit einer perfekten Abschiebelogistik die Wartezeit auf sensationelle drei Tage zu reduzieren, wäre ein Gefängnis für 6000 Menschen notwendig. Es wäre wohl das größte Gefängnis der Welt. Und es müsste erst noch gebaut werden. Anton Bachl sagt, in Deutschland dauert es zehn Jahre, bis ein Gefängnis geplant, genehmigt und gebaut wird. „Das ganze Gerede von wegen konsequent abschieben ist blankester Populismus“, sagt Anton Bachl. …Frontex kann nach eigenen Angaben die Außengrenzen der EU nicht komplett sichern. Deutschland bekommt seine nationale Landesgrenze nicht dicht. Und nur ein kleiner Teil der abgelehnten Asylbewerber kann tatsächlich abgeschoben werden. Das ist jetzt kein schönes, kein zuversichtliches Ende des Artikels. Doch eine Lösung des Flüchtlingsproblems ist in absehbarer Zeit nicht in Sicht. Einfache Maßnahmen werden dieses Jahrhundertereignis nicht wesentlich beeinflussen.
Solche Fakten sollten bedacht werden, bevor man vollmundig nach einer Obergrenze für Flüchtlinge ruft oder gar die Grenzen schließen will. Und wieder zeigt sich: Populismus hat mit Realität wenig bis nichts zu tun.
Bemerkenswert ist auch, dass dieser Journalist Walter Wüllenweber mit diesem Thema bisher kaum in die einschlägigen Talkshows eingeladen wird. Wären solche Fakten einfach zu ernüchternd?