Ein schon traditionelles Streitthema im Bereich der Philosophie und Theologie ist die Frage des Individualismus. Ist das nun etwas Gutes oder doch eher etwas Destruktives? Nutzt der Individualismus einer Gesellschaft oder schadet er dieser vielmehr?
Schnell muss man, wenn man sich ernsthaft mit diesem Thema auseinandersetzt, feststellen, dass man nicht einfach pauschal über Individualismus reden kann, sondern diesen zunächst definieren muss. Die Verwechslung mit Individuum und Egoismus ist schnell geschehen.
Das Individuum
Beim Individuum handelt es sich beim Menschen um die einzelne Person. Erst durch das Zusammenkommen vieler Personen kommt eine Gruppe zusammen. Herausforderung an diese Gruppe ist hier, in der Abgrenzung zum Einzelgänger, sich zu einer Gemeinschaft zu entwickeln. Das ist das zumeist angestrebte Ziel auch christlicher Gemeinden.
Festhalten müssen wir hier, dass es keine Gemeinschaft gibt, die nicht aus Individuen zusammengestellt ist. Es gibt keine Gemeinschaft, keine Gruppe ohne das Individuum.
Der Egoismus
Beim Egoisten handelt es sich um eine Person, die auf sich konzentriert ist und deren Handlungen und Streben zum eigenen Vorteil bedacht sind.
Jemand der sich als Individuum wahrnimmt oder auch als ein solches seine Persönlichkeitsentwicklung anstrebt, ist lange kein Egoist. Je nach Lebensumstände oder Stand der persönlichen Entwicklung ist dieses Streben nicht nur für die Person allein nutzbringend. Eine Gemeinschaft profitiert davon, je gesünder und reifer jede der Personen in ihr ist.
In der Geschichte der Menschheit war lange Zeit das Wohl der Gruppe weitaus wichtiger als das Wohl der einzelnen Person. Das Individuum fand nur seinen Wert in der Nützlichkeit für die Gruppe – ein Gedanke, der offensichtlich bis Heute nicht ausgerottet wurde. Besinnt sich in einer derart geprägten Sozialgemeinschaft das Individuum zu sehr auf sich, nimmt sich selbst wahr und strebt nach seinen Belangen, wird diese Person als Störelement wahrgenommen und nicht selten ausgeschlossen. Dieses, den Einzelnen unterdrückende, Bestreben und Denken findet sich z.B. in dem Denken und Streben des Kommunismus oder Sozialismus.
Gott und das Individuum
Betrachten wir nun unter diesem Aspekt die Bibel, stellen wir fest, dass der Gott der Bibel mit der einzelnen Person gänzlich anderes umgeht. Gott suchte stets, von der Schöpfungsgeschichte an, die Gemeinschaft und das Wohl des Einzelnen. Seinen Höhepunkt findet diese Haltung Gottes darin, dass Jesus für jeden einzelnen Sünder gestorben und auferstanden ist. Anders als manche Glaubensgemeinschaft vermitteln möchte, bietet Gott nicht das Heil einer Gruppe (hier Kirche) an, sondern jedem einzelnen Individuum persönlich.
Erst durch das Zusammenkommen dieser, jeder Einzelne für sich Erretteten, bildet sich die neutestamentliche Gemeinde. Das Heil des Individuums in der NT-Gemeinde ergibt sich also nicht aus der Zugehörigkeit zur Gruppe, sondern die Zugehörigkeit zur Gruppe aus dem individuell erfahrenen Heil.
Finden wir im AT noch stärker die Beschreibung der Beziehung Gottes zu seinem Volk – wobei auch im AT immer schon die persönliche Beziehung zwischen Gott und dem einzelnen Menschen beschrieben wurde – findet sich im NT eine deutlich stärkere Betonung auf die individuelle Beziehung zwischen Gott und dem Gläubigen. Die Gemeinschaft der Gemeinde erfährt überwiegend Gottes Segen aus der individuellen Beziehung zwischen Gott und dem einzelnen Menschen darin.
Nun werden viele erwidern, dass nicht wenige Verheißungen Gottes der Gemeinde gegeben wurden und nicht unbedingt dem einzelnen Gläubigen. Das ist Richtig. Nur dürfen wir hier nicht den Fehler machen, wieder in die Haltung zu fallen, dass die Gruppe über dem Einzelnen steht – vielmehr erstellt sich die Gruppe aus den vielen Individuen. Somit gelten diese Verheißungen der Gemeinschaft der Heiligen (Erlösten) und nicht einer Kirche oder sonstig organisierten Gruppe.
Der christliche Individualismus
Somit müssen wir festhalten, dass der „christliche Individualismus“ nicht vergleichbar mit dem egoistischen Bestreben des Individualismus unserer heutigen Gesellschaft ist, welches egoistisch nur nach dem eigenen Vorteil strebt. Der „christliche Individualismus“ ist eines der herausragend positiven Botschaften des christlichen Glaubens – das Gott jeden einzelnen Menschen derart liebt, das Jesus für dessen Heil gestorben und auferstanden ist. Im Fokus des Evangeliums steht nicht eine Gruppe, sondern das Individuum.
Ist Individualismus immer schlecht?
Betrachten wir nun den Individualismus außerhalb des einschränkenden christlichen Kontexts, müssen wir uns fragen, ob dieser wirklich immer nur destruktiv für Gemeinschaften und deshalb abzulehnen ist. Zu leicht wird das vernichtende Urteil darüber gefällt.
Woraus ergibt sich denn die individualistische Haltung? Sicherlich gibt es das rein egoistische Streben nach dem eigenen Vorteil und das permanente Drehen um sich selbst. Dieses Streben wirkt sich destruktiv auf jede Gemeinschaft aus. Aber wie hoch ist der Anteil bei Denen, die aktuell einem Individualismus nachstreben?
Die Haltung des Individualismus hat oft die Begründung darin, dass der jeweilige Mensch in der Entwicklung und Reifung seiner Persönlichkeit steckt. Oftmals hat dieser auch damit zu tun, nach negativen Beeinflussungen und Verletzungen seiner Persönlichkeit zu seinem Ich zu finden. Darin findet er in Gott seinen direkten Ansprechpartner. (Etwas, was zwar gerne gepredigt wird, oft aber in der Gemeinde, von bestimmten Leitern oder Mitgliedern dann doch nicht wirklich gerne gesehen wird.)
Ein Mensch, der derart zur Heilung und / oder Reifung seiner Persönlichkeit eine Art des Individualismus lebt, wird sich nicht von einer Gruppe gänzlich vereinnahmen lassen, wird kritisch hinterfragen ob ihm die Werte und das Streben der Gruppe nützlich ist und somit dem Bestreben dem Gruppengeschehen die Priorität zu geben im Wege stehen. Das ist auch gut so! Denn – ich wiederhole mich – Gott geht es um das Individuum zuerst! Die Gemeinde der Erlösten hat unter anderen Aspekten die Priorität dieser Heilung der Persönlichkeit einen Schutzraum anzubieten. In der Bibel wird dieser Heilungsprozess auch mit „Heiligung“ beschrieben.
Die Verteufelung des Individualismus als Machtmittel
Grenzen wir also den gelebten Individualismus von dem negativen rein egoistischen Bestreben nach dem eigenen Vorteil ab, haben wir es bei der Gemeinde mit einer Gruppe von erlösten Menschen zu tun, die gemeinsam auf dem Wege der Heilung und Heiligung sind. Das Heil des Einzelnen ergibt sich nicht – wie bereits gesagt – aus der Zugehörigkeit zur Gemeinde, sondern die Zugehörigkeit zur Gemeinde aus der individuell erfahrenen Erlösung.
In den Jahrtausenden, seit die Gemeinde der Christen existiert, fanden sich schon immer Bestrebungen die einzelne Person zugunsten der Gemeinschaft / Kirche abzuwerten. Vielfach wurde um die Existenz und auch dem Einfluss der Kirche durch das Zugeständnis des „christlichen Individualismus“ gefürchtet. Diese Haltung findet sich in der heutigen Zeit, durch den massenhaften Austritt von Christen aus den etablierten Kirchen und Gemeinschaften zum Schutze ihres eigenen Glaubens, wieder verstärkt. Zunehmend wird wieder gegen das individuelle Erleben Gottes, unabhängig von der jeweiligen Gemeinde, gepredigt und argumentiert. Der individuelle Umgang mit Gott und das individuelle Bestreben nach Heilung und Heiligung wird das eine oder andere mal sogar der Sünde zugeschrieben und als „Werk des Fleisches“ oder gar des Teufels verdammt.
Die Botschaft der Bibel dazu ist klar: Gott sucht das Gegenüber des Einzelnen und ist bestrebt diese als Gemeinschaft zusammenzuführen, damit diese sich gegenseitig in ihrer Heiligung unterstützen. Die Aufgabe der Versammlung ist also, in gegenseitiger Unterstützung, dem Einzelnen auf seinem Weg und seiner Begegnung mit Gott zu stützen und zu lehren. Es ist nicht die Aufgabe des Einzelnen sein Leben mit Gott auf die Interessen einer programmorientierten oder machtorientierten Gemeinschaft einzuschränken. Es ist aber ganz klar die Aufgabe jedes einzelnen Gläubigen der selbst erfahrenen Liebe Gottes darin Ausdruck zu geben, dass er diese Liebe nicht für sich behält sondern darin Gott ähnlich wird, diese Liebe uneigennützig weiterzugeben. Dies kann aber nicht eingefordert, sondern immer nur angemahnt, vorgelebt und erstrebt werden.
Biblische Unterordnung
Biblische Unterordnung ist also eine Unterordnung, die in Gegenseitigkeit geschieht und aus dem Bestreben erfolgt, die selbst erfahrene Liebe Gottes mit anderen zu teilen und anderen zu erweisen. Die Leitungsverantwortung in einer solchen Gemeinschaft ist eine Verantwortung vorbildhaft zu leben und dem Individuum in allen Höhen und Tiefen des Lebens die Liebe Gottes zu vermitteln. Dies geschieht in Lehre, Vorbild und Gemeinschaft. Die individuelle Unterordnung ist also die freiwillige Einordnung in diese Gemeinschaft unter der Prämisse der Nachfolge Jesu. Eine solche Unterordnung kann nur gegeben, nicht aber eingefordert werden. Leiter sind demnach Begleiter und Mentor, nie aber Herr oder Herrscher. Etwas, was diverse Leiter christlicher Gemeinden, Pastoren und Prediger neu überdenken sollten.
P.S.: Ich empfehle dringend eine Google-Recherche über „christlicher Individualismus“ und die Lektüre christlicher Fachliteratur, bevor man diesen Begriff einfach verteufeln möchte. Leicht könnte man sich sonst als Jemand outen, der mit Begriffen um sich wirft die er nicht wirklich kennt.
Liebe Freunde,
ich muss gestehen, dass ich gerade erst auf diesen Text gestossen bin, der ja hier nicht mehr ganz neu ist, obwohl ich mich innerlich schon seit geraumer Zeit mit diesem Thema beschäftige. Aber wie heißt es immer so schön, und da ist bestimmt etwas wahres dran: alles hat seine Zeit! Gefahr laufend, als Opportunist verschriehen zu werden, aber als wahrhaft Findender, ähnliches erdacht und erlebt zu haben, kann ich diese Gedanken nur unterstützen, sicher nicht 1zu1, so doch im Entscheidenden und genau darauf beruhen, die beschriebenen Gedanken! Umso mehr wundere ich mich, hier noch keine weiteren Kommentare lesen zu können! Ich bin überzeugt, es gibt sie!
Herzliche Grüße
Johannes
Hallo zusammen, ich bin auch gerade erst auf diesen Text gestossen und bin zunächst begeistert von einer positiven Sicht auf christlichen Individualismus. Jawohl, wir haben einen Gott, dem das Individuum wichtig ist und eine christliche Gemeinschaft wird durch das Zusammenspiel der Individuen einzigartig. Trotzdem mag ich noch eine Ergänzung dazu geben: wer als Leiter/Pastor oder Prediger je der Meinung war, er wäre Herr oder Herrscher der Gemeinde, der hat die Bibel noch nicht gründlich genug verstanden. Leiterschaft hat und hatte immer dienende Grundgedanken – nicht erst in der heutigen Zeit.
Seid herzlich gegrüßt,
Melanie
Cooler Artikel,
wirklich alternativ wenn man die Praxis in den meisten christlichen Denominationen bedenkt, die neben dem guten Anliegen Menschen zu Christus zu führen, danach trachten Mitglieder zu gewinnen um sie in Ihr religiöses System zu integrieren. Die Gefahr ist, daß die Gemeinschaft zum Götzen wird, also wichtiger wie die persönliche Beziehung zu Gott. Falsch verstandene und gelehrte christliche Selbstverleugnung dient als Werzeug des Mißbrauchs und führt zu fehlgeleiteter Selbstausbeutung für die Gemeinschaft.
Gefördert wird diese Fehlentwicklung durch einen Klerus der sich selbst nährt. Der Klerus hat zu seiner Selbsterhaltung die passende Lehre entwickelt und über Generationen hinweg etabliert. Durch sie wird seine Alternativlosigkeit und Autorität sicherstellt. Geld verdirbt den Charakter und im Fall der Gemeinde ihre im obigen Artikel so schön beschriebene Gemeinschaft erlöster, freier, kreativer Individien.
Boris