
Ich hatte nun die Gelegenheit, den so sehr gelobten Film „Gotteskinder“ anzusehen. Den offiziellen Text zu Film füge etwas später hinzu. Geschildert wird das streng geregelte Leben einer evangelikalen Familie in Deutschland. So zumindest die Behauptung.
Die Autorin und Regisseurin Frauke Lodders hat dafür innerhalb eines Jahres „intensive Recherchen“ vorgenommen. Aufgrund derer sie und ihr Film derart hochgejubelt wurden. Doch was ist wirklich an dem allen dran? Fast eine seriöse Dokumentation im Spielfilmformat oder doch nur wieder eine Ansammlung beliebter Vorurteile? Das schauen wir uns doch mal an.
Aber wer bin ich, der hier solche Kritik üben will?
Naja, ob ich Ahnung von dem habe, worum es in dem Film geht, mögen Sie beurteilen. Ob über 40 Jahre leben und bewegen in der deutschen freikirchlichen, evangelikalen Szene genug Wissen mit sich bringt? Gleichzeitig habe ich über viele Jahre auf verschiedenen Ebenen Leitungsverantwortung in freikirchlichen Gemeinden gehabt. Zudem habe ich über 30 Jahre Erfahrung in Seelsorge und christlicher Lebensberatung, samt etlichen Fortbildungen in Psychologie und Psychotherapie. Damit kenne ich also auch eine Menge von dem, was in freikirchlichen, evangelikalen Gemeinden als Seelsorgeangeboten so abläuft. Meinen Sie, ich könnte mir eine Meinung zum Film erlauben? Ich ziehe es einfach mal durch.
Offizieller Text zum Film:
„Gotteskinder“ ist ein mehrfach preisgekröntes Drama, das die Konflikte zwischen Glauben, Familie und persönlicher Selbstfindung beleuchtet. Der Film erzählt die ergreifende Geschichte zweier Geschwister, die mit den strengen Regeln einer evangelikalen Freikirche und ihren eigenen Gefühlen kämpfen. Dieser fesselnde Spielfilm gewährt einen tiefen Einblick in die Welt des religiösen Fundamentalismus – basierend auf intensiven Recherchen.
„Gotteskinder“ öffnet den Blick auf das Leben in einer streng evangelikalen Freikirche in Deutschland und erzählt die Geschichte der Geschwister Hannah und Timotheus, die zwischen Glauben und Selbstfindung stehen. Hannah hat ein Keuschheitsgelübde abgelegt, doch als sie sich in den neuen Nachbarsjungen Max verliebt, gerät ihre Überzeugung ins Wanken. Ihr Bruder Timotheus ringt mit seiner sexuellen Identität und sucht verzweifelt nach „Heilung“, weil er glaubt, dass seine Homosexualität eine Sünde ist. Beide stehen vor der Entscheidung, den Erwartungen ihrer gläubigen Eltern zu folgen oder ihren eigenen Gefühlen zu vertrauen.
Die Recherchen
Frauke Lodders hat nach eigenen Angaben ein Jahr lang intensiv recherchiert. (Hier nachzulesen )
„… ich durfte dank einer Drehbuchförderung ein Jahr sehr intensiv recherchieren. …
Ich habe mir in Kassel, wo ich wohne, nur Infomaterial geben lassen und nicht in der dortigen Gemeinde recherchiert – einfach auch aus Sicherheitsgründen. Auch wollte ich nicht in meinem Privatleben angesprochen werden von Gemeindemitgliedern. Ich habe in anderen Städten recherchiert. Und da bin ich schon sehr stark missioniert worden auf jede erdenkliche Weise.“
Moment, aus Sicherheitsgründen hat sie nicht in ihrer Heimatstadt recherchiert, wo es tatsächlich einiges zum Thema zu finden gäbe. Wovor hatte sie denn Angst? Vermutet sie unter Evangelikalen Menschen, die sie mit Gewalt zum Glauben zwingen wollen? Die ihr nachstellen und schlimmes antun? Nach meinen bescheidenen Erfahrungen gibt es solches in der evangelikalen Szene Deutschlands nicht. (Auch wenn einzelne „Aussteiger“ immer wieder ähnliches behaupten – dazu später mehr.)
Begann die Autorin also unvoreingenommen ihre Recherche? Eher nicht, oder? Soll das eine qualifizierte journalistische Arbeit sein?
„ hessenschau.de: In Ihrem Film ist Homosexualität ein Thema. Wie haben Sie das in Ihre Recherche eingebaut?
Frauke Lodders: Als ich so ein bisschen ein Gefühl dafür hatte, wie diese Gemeinden funktionieren, habe ich auch Kontakt zu sogenannten Konversionstherapeuten gesucht. Und habe sie angeschrieben unter dem Vorwand, ich wäre verheiratet und hätte jetzt Gefühle für eine neue Arbeitskollegin.
Mir wurde gesagt, dass das ein sehr ernsthaftes Problem ist, es wäre eine Krankheit, von der ich befallen wäre oder wahlweise Dämonen, die von mir Besitz ergriffen hätten. Also ich habe da wirklich schlimme Sachen gehört. Es gibt tatsächlich auch solche Einzelsitzungen, wie ich sie im Film zeige. Alles, was da gesagt wird, wurde während der Recherche zu mir gesagt.“
Sie hat Kontakt zu Kornversionstherapeuten in Deutschland gesucht? Oder auch international? Weiß man nicht. Nun bin ich mir bewusst, dass es sehr vereinzelt Evangelikale gab oder evtl. auch noch gibt, die in Deutschland solche Angebote machten – was im Übrigen in Deutschland strafrechtlich verfolgt würde. Die im Film gezeigte gewaltsame Entführung des 17-jährigen ist zudem völlig irreal. Es bleibt auch nicht nachvollziehbar, warum gerade diese Junge dort geblieben ist, hätte er doch jederzeit gehen können und seine Entführung, sowie die dort erlebte Kornversionstherapie zu Anzeige bringen können.
Ein Psychiater fiel bei anderen Recherchen mit ähnlichem Verhalten, wie der Psychiater im Film, auf. Steht der denn für das, was an christlichen Beratungsangeboten ergebnisoffener Therapien hierzulande angeboten wird? Nein, aber sowas von Nein!
Da dieses Thema in der westlichen Welt zu einem heißen Reizthema geworden ist, bedarf es dazu an anderer Stelle einer echten, ausführlichen Auseinandersetzung. Doch so platt und zugleich übergriffig, wie im Film geschildert, findet man solchen in unserem Land nicht. Aber ja, es eignet sich hervorragend für eine reißerische Darstellung von Halbwahrheiten.
„Man sieht auch nicht immer sofort, welche Art von Freikirche das ist, weil es ja auch Freikirchen gibt, die total in Ordnung sind, die total weltoffen und liberal sind. Und wenn man innerhalb des Systems immer funktioniert und nicht aneckt, kann man selbst in einer fundamentalistischen Freikirche ein sehr schönes Leben haben.“
Also gab es doch evangelikale Gemeinden, die vor dem „unvoreingenommen“ Urteil der Frau Lodders halbwegs bestehen konnten. Welch eine Erleichterung, eine solche Einordnung von einer derart kompetenten Person zu erhalten. Wer würde da an Arroganz und Voreingenommenheit statt Kompetenz denken wollen?
„hesssenschau.de: … Wie groß ist tatsächliche die Bedeutung von fundamentalistischen Freikirchen in unserer Gesellschaft?
Frauke Lodders: Ich glaube, die Bedeutung ist viel größer, als wir denken. Die Gemeinden sind riesig. Als ich angefangen habe zu recherchieren, waren es ungefähr 1,5 Millionen Mitglieder. Das war 2018. Die Zahlen steigen stetig.“
Wow, wo kommt denn diese Zahl her? Laut Wikipedia: In Deutschland beläuft sich die gesamte Mitgliederzahl der Freikirchen auch nach optimistischer Schätzung auf unter einer Million.
Um auf eine solch große Zahl zu kommen, muss man den Begriff Evangelikal extrem ausweiten und alle ähnliche Bewegungen in den beiden Großkirchen mitzählen, zusätzlich braucht man auch noch die Sekten, wie die Zeugen Jehovas oder die Apostolische Kirchen, etc. Das hat mit einer seriösen Einordnung des Begriffs Evangelikal aber nur wenig bis kaum noch etwas zu tun. Wird zwar immer wieder gemacht, ist aber willkürlich.
Die Durchschnittsmitgliederzahl von evangelikalen Gemeinden liegt zwischen ca. 30 bis evtl. 300 Mitgliedern. Diese deutlich größeren Gemeinden sind die Ausnahme und nicht wirklich die besseren Gemeinden.
Die Zahlen steigen stetig? Eigentlich verzeichnen manche der großen Vereinigungen rückläufige Mitgliederzahlen. Wenige aber auch steigende. Frau Lodders, ist da mehr das Vorurteil Vater der Behauptung, statt schlichter Realität?
„Ich habe in der Recherche sehr viel mit Aussteigern zu tun gehabt. So ein Ausstieg dauert Jahre und verläuft auch nicht linear.
Ein Happy End hätte dem Film die Wucht genommen. Denn die wenigsten schaffen den Ausstieg aus solchen Strukturen. Man muss sich vorstellen, man hat seine gesamte Familie in dieser Gemeinde, alle seine Freunde, das gesamte Leben. Wer aussteigt, verliert alles. Und das ist einfach ein sehr, sehr harter Weg. Ich wollte keine Aussteigergeschichte erzählen, weil das der Ausnahmefall ist. Mein Film handelt vom Regelfall.“
Ok, wie sieht ein Ausstieg aus deutschen evangelikalen Gemeinden aus? Ich beschreibe das mal Schritt für Schritt (Achtung, jetzt wird es kompliziert):
a.) Sie kommen nicht mehr zu den Gottesdiensten.
b.) Wenn überhaupt, melden sich die Gemeinden nach anfänglichen Versuchen schlicht nicht mehr.
Leider herrscht dort bedauerlicherweise doch sehr stark das Prinzip: „Aus den Augen, aus dem Sinn“. Wenn jemand zuvor Glaubenszweifel oder gar Kritik an der Gemeinde selbst geäußert hat, bleibt es weiterhin unwahrscheinlich, dass mehr Bemühungen seitens der Gemeinde geschieht.
Völlig normal ist auch, dass nicht immer die ganze Familie zur Gemeinde kommt und den Glauben teilt. Auch in den Familien von verantwortlichen Leitern ist das nicht anders.
Frau Lodders verwechselt hier doch augenscheinlich christlich geprägte Sekten mit Evangelikalen.
Aber halt, da sind doch die Berichte von den Aussteigern, was ist davon zu halten? Nach meiner bescheidenen Erfahrung sind die extrem übertrieben und auch selten überprüft. Zumindest, wenn wir von evangelikalen Gemeinden und Gemeinschaften reden. Das behaupte ich, weil ich aus eigenem Erleben echte Aussteiger aus christlich geprägten Sekten kenne und begleitet habe.
Solche Berichte werden jedoch sehr gerne in Reportagen über die Evangelikalen immer wieder verwendet. Seriöse Recherche oder doch nur populistische Machart?
„Und ich durfte dank einer Drehbuchförderung ein Jahr sehr intensiv recherchieren.“
Ernsthaft? Für eine derart schlechte Recherche hat sie auch noch Geld bekommen? Das sollte sie unbedingt zurückzahlen, denn ihre Recherche ist so gut wie nichts wert!
Der Purity Ball – Das Keuschheitsgelübde
Die Vorbereitung auf diesen Ball, an dem dieses Keuschheitsgelübde eigentlich erst abgelegt wird, und die Zielrichtung der Keuschheit vor der Ehe nimmt in dem Film breiten Raum ein. Doch wie realistisch ist das?
Eine solche Bewegung ist tatsächlich in den USA entstanden und wird dort wohl auch immer noch gepflegt. Wie stark das noch ist, konnte ich nicht herausfinden. Dort entstand die übergeordnete Bewegung „True Love Waits“, welche auch in Deutschland unter „Wahre Liebe wartet“ zu finden war. Erfolgreich war das in Deutschland nicht. Wikipedia schreibt dazu:
„In Deutschland hatte die Aktion 2006 nach eigenen Angaben etwa 10.000 Anhänger im Alter von etwa 16 Jahren bis Anfang 20. Die deutsche Website der Aktion wurde seit 2011 nicht mehr gepflegt und ist seit Mitte 2018 offline.“
Meine eigenen Recherchen ergaben, dass, wenn überhaupt, solche Keuschheitsgelübde in Deutschland nur noch in wenigen katholischen Reihen gepflegt werden. Lediglich bei einzelnen christlichen „Influencern“ im Internet findet man heute diese extrem bis fanatisch vertretenen Ansichten.
Wie wahrscheinlich ist es also, dass uns heute noch in evangelikalen Gemeinden ein solcher Purity-Ball begegnet? Das ist nicht zu erwarten, der Film ist ergo unrealistisch. Aber durchaus geeignet, möglichst reißerisch ein verzerrtes, voreingenommenes Feindbild zu erzeugen.
Selbst wenn es so etwas noch gäbe, wie realistisch ist es, dass eine Teenagerin alleine die Vorbereitungen und Organisation durchführen würde? Ebenso völlig unrealistisch.
Fazit
Ich könnte jetzt noch mehr in einige Details des Films gehen, was aber am Ergebnis nichts ändert. Dieser Film ist mehr hetzerische Propaganda als ein realistischer Einblick in das Leben von Kindern aus evangelikalen Familien. Die Lobhudelei, die dieser Film erfahren hat, lässt vermuten, dass die, welche sich so begeistert zeigen, noch weniger Ahnung von der Materie, dafür aber gut gepflegte Vorurteile und ein überzogenes Bild ihres eigenen Werteverständnisses haben. Denn nur, wenn man dogmatisch seine Werte als Ultima Ratio annimmt, kann man derart arrogant auf das Werteverständnis anderer schauen – was natürlich in beide Richtungen gilt.
Dieser Film bekommt von mir einen von 5 Sternen – aber nur, weil manche der Darstellungen der Veranstaltungen nahe an heutige Spartengemeinden herankommen.
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Zuletzt möchte ich noch das Fazit von Anna Lutz auf pro-medienmagazin anführen:
Kritik ist notwendig, vielleicht sogar lebenserhaltend für die Kirchen. Nur taugt eine Eskalation wie der Film „Gotteskinder“ kaum, um Beteiligte ernsthaft ins Nachdenken zu bringen. Wer dem freikirchlichen Milieu angehört, sei es im liberalen oder konservativen Kontext, wird wohl recht schnell ausschalten und das Gesehene in die Schublade „Stereotyp“ ablegen. Konstruktive Kritik sieht anders aus. Und so hilft dieses Drama wirklich niemandem weiter. Weder macht es nachdenklich noch prangert es Missstände an, die jetzt und heute zu ändern wären. Stattdessen verliert sich der Film trotz wohl ausgewählter Besetzung im Viel-zu-viel.
Was also ist dran an „Gotteskinder“? Vermutlich ist es der durchaus faszinierende Blick in ein Milieu, das viele der Zuschauer gar nicht kennen oder nur vom Hörensagen durch Geschichten aus dem Amerika Donald Trumps. So flach wie die Reden des letzteren bleiben aber auch die Charaktere der Frommen. Was sind ihre Motive? Warum halten sie ihr Tun für richtig? Wieso sehnen sie sich so sehr nach Heiligung? Damit halten die Macher sich nicht auf. Sie setzen Feindbilder, statt Weltbilder zu hinterfragen. Das ist alles andere als preiswürdig.